Aufbruchstimmung in unsicheren Zeiten
Viele Menschen dürstet es gegenwärtig nach Veränderung. Sie wollen, oft auch mit anderen zusammen, wichtige Vorhaben in die Wege leiten. Doch die Coronakrise erhöht die Unsicherheit und erschwert die Planung. Viele Vorhaben werden verschoben. Dieser Beitrag gibt Tipps, wie Sie eine Aufbruchstimmung in unsicheren Zeiten kreieren können.
Vor einiger Zeit (weit vor Corona) hörte ich eine Rede von Kjell A. Nordström. Ganz unvermittelt fragte er die Zuhörer, unter denen viele Amerikaner waren, „Warum gibt es die USA?“. Ratlose Blicke. Gute Frage! Er fuhr fort: „Die USA gibt es wegen einer Idee“. Pause. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. „Der Idee von Freiheit, Gleichheit und Eigenverantwortung“. Durch die Zuhörerschaft ging ein Raunen. Diese Idee hatte viele Menschen im 18. Jahrhundert (und auch heute noch) motiviert, ins Unbekannte vorzustoßen und auszuwandern. Das ist die Kraft von Ideen.
Wer eine
Aufbruchstimmung
erzeugen will, braucht eine Idee. Kein Risiko und kein Aufbruch, ohne eine Idee dahinter. Ideen lösen eine Hinzu-Bewegung aus und können Menschen veranlassen, alles Vertraute für eine höchst ungewisse Zukunft hinter sich zu lassen, sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Auch heutzutage haben solche Ideen ihre Attraktivität nicht verloren. Europa erlebt das beispielsweise mit der Flüchtlingsbewegung.
Entscheidend für die Bereitschaft den Aufbruch zu wagen und ein Risiko einzugehen, ist aber nicht nur die Idee an sich, entscheidend ist der
Unterschied zum Status Quo
Die Menschen erlebten damals in den USA wie heute in der europäischen Flüchtlingsbewegung Hungersnöte und Unfreiheit in ihrer Heimat. Die Diskrepanz zur Idee von Freiheit und Gleichheit war und ist gravierend. Victor Hugos Aussage, „nichts auf der Welt ist so kraftvoll wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, ist aktueller denn je. Und die Zeit ist umso reifer, je schmerzhafter die Lücke, zwischen dem was ist und dem was sein könnte, empfunden wird. Je größer dieser Schmerz oder die Sehnsucht, umso mehr Momentum hat die Aufbruchstimmung und umso größer ist die Risikobereitschaft.
Für eine Aufbruchstimmung muss man nicht unbedingt eine attraktive Idee finden, man kann auch am Status Quo ansetzen. Wird dieser schlagartig als unerträglich empfunden, wie beispielsweise die Produktion der Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, tritt eine weg-von Motivation ein, die ebenso ausreichen kann, eine risikobehaftete Aufbruchstimmung wie eine klimaneutrale energiepolitische Wende einzuleiten. Das A und O der Aufbruchstimmung ist eben die
Sehnsucht oder der Schmerz,
verursacht durch die Spanne zwischen dem was in der Gegenwart ist und der in der Idee enthaltenen denkbaren Zukunft. Die Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft kann man als Sehnsuchtsspanne sehen.
Wenn eine Organisation, wie etwa ein Unternehmen, eine Behörde oder ein Land, eine Veränderung bewirken möchte, beispielsweise die Digitalisierung voranzutreiben oder eine Steuerreform umzusetzen, ist in der Regel die Sehnsucht danach eher gering. Unzählige sogenannte Change-Management Projekte scheitern, weil der Status Quo als zu angenehm und die denkbare Zukunft als nicht attraktiv genug empfunden werden. Man verbleibt lieber in der Komfortzone, als dass man für das „bisschen Change“ ein Risiko eingehen würde.
Erschwerend kommt nun in Zeiten von Corona eine allgemeine Verunsicherung hinzu. Niemand weiß, wie lange der Ausnahmezustand noch anhalten wird, wann man beispielsweise wieder Geschäftsreisen oder eine Konferenz mit Anwesenheit vor Ort sicher planen und durchführen kann. Dennoch ist auch unter diesen Umständen Veränderung möglich und eine Aufbruchstimmung mit Risikobereitschaft erzielbar. Dazu ist eine besondere Art von
Leadership
gefragt. Leadership bedeutet grundsätzlich, noch vor einer tief empfundenen Diskrepanz zwischen Zukunftsidee und Gegenwart, zu handeln. Denn wenn die Sehnsucht oder der Schmerz erlebt wird, ist die Aufbruchstimmung da, auch ohne Leadership. Leadership bringt die Menschen ins risikobehaftete Tun, noch bevor die Sehnsuchtsspanne dies übernimmt.
Nun hat Leadership heutzutage ein ernsthaftes Problem: Aussagen wie beispielsweise „was wollt ihr denn, uns geht es doch gut“ sind schlichtweg wahr. Uns geht es tatsächlich gut. „Abwarten und Tee trinken“ kann sogar eine weise Entscheidung sein. Aufbruch Heute scheitert oft daran, dass die Notwendigkeit, Veränderungen herbeizuführen nicht ausreichend kommuniziert beziehungsweise begründet werden kann.
Nicht funktioniert
in der Regel die Sehnsuchtslücke herbeizureden, etwa den Status Quo ungemütlich zu machen, indem den Menschen vor einer theoretisch möglichen Gefahr Angst gemacht wird oder die Zukunft künstlich attraktiv auszumalen. Es gibt keinen Fake-Aufbruch. Entweder er ist da oder eben nicht. Ein Aufbruch, der auf einem angenehmen Status-Quo und einer halbgaren Idee beruht, ist, wenn überhaupt, nur ein Strohfeuer, das sich schnell in Schall und Rauch auflöst. Die Menschen wenden sich desillusioniert ab. Alle weiteren Bemühungen, das Momentum doch wieder zu entfachen, werden achselzuckend zur Kenntnis genommen.
Zwischenfazit
In der heutigen Zeit ist die Aufbruchstimmung von zwei Schwierigkeiten geprägt. Die attraktive Zielidee ist in einer komplex gewordenen Welt schwer zu finden. Der Status Quo hingegen oftmals sehr komfortabel. Die Sehnsuchtslücke nur sehr klein, zu klein, um ein Momentum zu erzeugen.
Welche Art Leadership braucht es in einer solchen Situation?
Kühnes Denken
Was wäre zu gut, um wahr zu sein? Was schieben wir schon seit langem vor uns her? Woran trauen wir uns nicht so recht ran? Fragen, die kühnes Denken provozieren, und auf Vorhaben zeigen, die man „eigentlich“ nicht möglich halten würde, weil an ihnen schon Menschen gescheitert sind, oder denen so geringe Aussicht auf Erfolg bescheinigt wird, dass sie noch nicht angegangen wurden. Für kühne Idee kommt vieles in Betracht, von einer neuen bahnbrechenden technischen Entwicklung bis zur Überwindung von Not und Hunger in der Welt.
Henry David Thoreau hat einmal gesagt: „Wenn ein Mann nicht Schritt hält mit seinen Kameraden, hört er vielleicht nur einen anderen Trommler.“ Lassen Sie Tabus zu, wie etwa vergangene Misserfolge zu reden. Bitten Sie um abwegige und verrückte Ideen. Kühn bedeutet, Probleme lösen wollen, die man als nicht lösbar erachtet.
Das Glück ist dem Kühnen hold. Der Kühne vertraut auf Inspirationen zur gegebenen Zeit. Darauf, dass sich am Ende alles fügen wird. Wer nicht weiß, wie er das Problem lösen kann, dennoch aber eine Lösung anstrebt, denkt kühn. Und wer glaubt, dass dazu auch immer eine Portion Glück gehört, hat recht. Thomas Jefferson sagte einmal „Je härter ich arbeite, umso mehr Glück scheine ich zu haben.“ Will heißen, kühne Ideen benötigen harte Arbeit. Das führt zum nächsten Punkt, der
brutal ehrlichen Kommunikation
Eines der wohl berühmtesten Beispiele dafür erfand Ernest Shackleton, als er Anfang des letzten Jahrhunderts Teilnehmer für seine Südpolexpedition suchte. „Männer gesucht für eine gefährliche Expedition. Niedriger Lohn, bittere Kälte, viele Stunden vollständiger Dunkelheit. Sichere Rückkehr fraglich. Ehre und Anerkennung im Falle des Erfolgs.“ Der Legende nach hatte er mehrere Tausend Bewerber.
Das Luxusproblem unserer heutigen Zeit ist Langeweile. Natürlich sind wir busy, haben keine Zeit und sind gestresst. Wenn wir aber wissen wollen, nach was uns wirklich dürstet, müssen wir nur die Filme betrachten, die wir nach Feierabend zuhause anschauen. Liebe, Spaß und Abenteuer. Oder sehen Sie am liebsten Gras beim Wachsen zu? Eben. Nun, für die Liebe kann Leadership normalerweise nicht sorgen, aber für Spaß und Abenteuer allemal.
Niemand kann genau sagen, was die Zukunft bringen wird. Wer das von Leadership erwartet, wird enttäuscht. Sicherheit in Aussicht zu stellen, führt nur zu einer ungläubigen „Schauen-wir-mal“ Haltung. Wo klare Pläne Wunschdenken sind, kann man zumindest gut recherchieren und Fakten und deren Trends sammeln und dann wie Ernest Shackleton eingestehen, dass es am Ende ein Abenteuer sein wird. Nutzen Sie die Lust auf Grenzerfahrung und persönliches Wachstum. Das ist der Mehrwert, der die Sehnsuchtsspanne wachsen lässt, auch wenn der Status Quo so schlecht nicht ist.
Sich stetig gegenseitig ermutigen
Niedrige Sehnsuchtsspannen lassen uns das Risiko eines Fehlschlags deutlicher spüren. Je komfortabler die aktuelle Situation umso mehr kann man scheinbar verlieren, auch mit einem attraktiven Ziel. Wer will sich hinterher schon eingestehen, für etwas Wagemutiges alles aufs Spiel gesetzt zu haben und von anderen mitleidig angeschaut zu. Fragen wie „Wie konntest Du nur?“, lässt uns in unserer Fantasie schnell solche Pläne begraben. Es geht dann nicht nur um das Scheitern als solches, sondern um den Gesichtsverlust und das Gefühl der Scham.
Wenn man aufbricht in eine ungewisse Zukunft, ist man auf einer emotionalen Achterbahnfahrt. Es gibt gute und schlechte Tage, Hochs und Tiefs. Eine wichtige Eigenschaft ist es, die geeigneten positiven Stimmungen zu erzeugen und stetig zu üben. Dazu kann es helfen, tägliche Ermutigungsrituale in den Alltag zu integrieren. Beispielsweise eine Liste anzufertigen, all der schwierigen Probleme, die man bereits in seinem Leben gemeistert hat.
Negative Emotionen sollten nicht abgeblockt werden. Sie sind Teil jedes Aufbruchs. Konstruktiver ist es sie zuzulassen und zu bearbeiten. Sie zunächst einmal auszuhalten, zu beobachten und ihre Bedeutung zu registrieren. Kreisen hingegen die negative Gedanken und kommen nicht zur Ruhe, ist es besser, sie bewusst zu unterbrechen und die dahinterliegenden Denkfallen wie Katastrophendenken zu erkennen. Das Schöne an ausgemachten Katastrophen ist es nämlich, dass wir nur selten davon dauerhaft beeinträchtigt bleiben. Das Leben geht weiter.
Voneinander lernen
Neben dem Abenteuer und Spaß ist die persönliche Weiterentwicklung wohl eines der motivierenden Ziel in unserer heutigen Zeit. Wachsen kann man nur an seinen Aufgaben. Eine Aufgabe füllt uns nur aus, wenn wir an unsere Grenzen stoßen und diese erweitern dürfen. Für Teams gilt das gleiche. Auch sie können und möchten sich weiterentwickeln. Die kollektive Weiterentwicklung im Team korrespondiert dabei mit der individuellen der Einzelnen. Beide bedingen sich gegeneinander und bauen aufeinander auf.
In regelmäßigen Gesprächen können alle gemeinsam darüber reflektieren, was sie einzeln und zusammen gelernt haben. Sie können sich auch gegenseitig unterstützen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.
Aufeinander vertrauen
Wer einmal in einem guten Team gearbeitet hat, will immer wieder dahin zurück. Jeder ist verantwortlich und man unterstützt sich gegenseitig. Die Erfahrung der Gemeinschaft ist wie der Spaß, das Abenteuer und die persönliche Weiterentwicklung selbst ist neben einem kühnen Ziel immer noch eine der größten Motivationen überhaupt. Menschen sind „Rudeltiere“. Sie schließen sich zusammen, wo immer sie können, in Vereinen, Parteien, Bürgerinitiativen und Fahrgemeinschaften. Die Mannschaft macht den Unterschied.
Kein Backup, kein „Netz“
Stellen Sie sich vor, es gäbe für Ihr Ziel eine Versicherung gegen das Scheitern. Eine Police etwa, die Ihnen, wenn das Projekt gegen die Wand fährt, eine gewisse Summe als Entschädigung auszahlt. Würden Sie solch eine Versicherung abschließen? Hoffentlich nicht, denn erst durch das mögliche Scheitern bekommt die Idee ihren Reiz. Finden Sie nicht? Falls Sie dennoch die Versicherung abschließen würden, wäre mein Tipp, suchen Sie sich eine andere Idee. Denn wenn man Sie des Geldes wegen dazu motivieren kann, war es wohl keine Idee, für die Sie die nötige Aufbruchstimmung verspüren. Scheitern ist nicht nur möglich, sondern das Salz in der Suppe des Lebens.