Über die Scham
Gerade ist mein Hund im Wald verschwunden, einer Spur hinterher. Natürlich darf er nicht einfach dort rumstreunen. Nur stört ihn das wenig.
Wenn er gleich zurückkommt, wird er nicht die geringste Spur von Bedauern zeigen. Schimpfen? Absolut zwecklos. Ich kann ihn nur fürs Zurückkommen loben. Denn mein Hund hat mir gegenüber einen entscheidenden Vorteil:
Er kann sich nicht schämen.
Im Gegensatz zur Schuld, die man empfindet, wenn man einem anderen Menschen einen Schaden zufügt, hat man bei der Scham die eigenen Anforderungen nicht erfüllt, man hat sich quasi selbst geschadet. Man ist Opfer und Täter in Personalunion. Bei der Schuld kann man sich beim anderen ent-„schuldigen“, bei der Scham nur im Erdboden versinken. Scham lässt einen an sich selbst (ver-)zweifeln. Das Selbstwertgefühl leidet. Das macht die Scham so schmerzhaft.
Da kommt mein Hund zurück, glücklich. Wie zu erwarten war, von Scham keine Spur. Mein Hund kann seine Freiheit ausleben, völlig schambefreit, weil er nämlich keine hochgesteckten Anforderungen an sich hat. Ein Leckerli hier und da kann zwar nicht schaden, aber ohne geht es auch.
Für uns Menschen ist die Scham ein großer Bremsklotz. Ach, wie viele Pläne bleiben so in den Schubladen liegen.
Aber wir können der Scham entgegenwirken. Nicht, indem wir unsere Anforderungen senken oder gar aufgeben, sondern indem wir uns selbst verzeihen, selbst akzeptieren und ein Nichterfüllen eigener Anforderungen mit Menschen unseres Vertrauens besprechen. Indem wir darüber reden, mit jemanden der Verständnis hat, verliert die Scham ihren Schrecken.
So können Pläne aus den Schubladen geholt werden. So ist wieder Entdeckerdrang und Aufbruch möglich.