
Wie man Pläne wieder loslässt
Nur zu gerne hält man an einem einmal gefassten Plan fest, auch wenn er sich als unrealistisch erwiesen hat. Schließlich hat man bereits viel Zeit in die Umsetzung investiert. Einen neuen Weg einzuschlagen, ist dann gar nicht so einfach. Wie kann man liebgewordene Pläne rechtzeitig wieder loslassen?
Der Plan
Unser Improvisationstrainer Frederik Malsy legte eine Zeitungsseite auf den Boden. Wir sollten uns so platzieren, dass sich alle gegenseitig berühren, aber keiner mehr den Boden. Kein Problem, wir waren zu acht und die Zeitung war groß genug. Wir konnten alle einen Fuß auf die Zeitung setzen und, während wir uns gegenseitig festhielten, den anderen Fuß hochheben.
Dann halbierte der Trainer die Zeitung und wir mussten unsere Akrobatik steigern. Dann halbierte er sie nochmal und wieder gelang es uns. Nach einer weiteren Halbierung hatte die Zeitung schließlich die Größe eines Blattes Papier erreicht. Nichts ging mehr. Was nun?
Die Improvisation
Wir mussten uns nur an den Händen halten und alle gleichzeitig mit beiden Beinen in die Höhe springen. Damit war die Bedingung erfüllt. Niemand hatte gefordert, die Zeitung zu benutzen. Der Trainer hatte sie nur demonstrativ auf den Boden gelegt, während er uns die Aufgabe erklärte.
Was war das Problem? Wir folgten einem Plan, einer vorgegebenen Lösungsstrategie, die lautete: Benutze die Zeitung. Zunächst funktionierte dies auch, aber als die Anforderungen schwieriger wurden, bekamen wir ein Problem. Erst als wir die „Lösung“ infrage stellten, fiel endlich der Groschen. Die Lektion, die uns der Trainer vermitteln wollte, war, dass man sich jederzeit von einem Plan lösen sollte. Ja, vielleicht sogar besser, erst gar keinen aufstellt.
Dancing in the Moment
Im Improtheater wie im Coaching zählt nur der Moment. Ein Plan, eine Roadmap oder eine Agenda sind Lösungsstrategie aus der Vergangenheit. Sie versuchen, die Zukunft gedanklich vorwegzunehmen. Viele Beratungsformen sind gewohnt, mit Agenden zu arbeiten. Trainer brauchen sie sogar. Kaum ein Kunde besucht ein Training, ohne nicht vorab mit einem Trainingsplan ausgestattet worden zu sein. Von einem Berater wird erwartet, dass er mit umfangreichen Projektplänen mit vielen Meilensteinen und Arbeitspaketen arbeitet.
Für den professionellen Coach jedoch ist eine Agenda zerstörerisch. Sie begrenzt die Wahrnehmung und wirkt wie Scheuklappen. Für ein Pferd auf der Straße mag das ein Segen sein, für das Coaching ist es Gift. Der Kunde arbeitet kontinuierlich an seinen Zielen und verändert sich von Coachingsitzung zu Coachingsitzung. Egal welchem Plan man folgt, er ist schon nach kurzer Zeit überholt und schadet mehr als er nützt, falls man an ihn festhält. Denn jeder Mensch ist einzigartig und keine Agenda wird ihm gerecht. Im Coaching wie im Leben versuchen Agenden etwas zu planen, was nicht planbar ist. Sie ziehen uns aus dem bestehenden Moment und lenken uns von der Lösung ab. Einer festgelegten Lösungsstrategie zu folgen, löst keine Probleme, sie schafft neue.
Fazit
Innehalten, reflektieren und flexibel sein – und das mit Beharrlichkeit – führt zum Ziel. Die wahre Kraft zur Veränderung liegt im Jetzt – frei von starren Vorgaben und offen für das Unvorhersehbare. Die Zukunft entsteht im Moment, durch Flexibilität, Kreativität und den Mut, neue Wege zu gehen. Im Coaching, wie oft auch im Leben, zählt nur der Moment. Wer an einem Plan, einer Agenda oder einer Roadmap zu lange festhält, vergibt Chancen.
Das Beispiel des Improtheaters ist ein Auszug aus meinem Buch „Der Weg zum professionellen Coach“ erschienen bei Beltz (2013).